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UNDER THE SKIN-REGISSEUR JONATHAN GLAZER IM INTERVIEW

Jonathan Glazer Portrait

UNTER DER HAUT IST MAN IST IMMER ALLEINE …
… im Gespräch mit UNDER THE SKIN-Regisseur Jonathan Glazer

 

Der vor knapp 50 Jahren in London geborene Jonathan Glazer ist ein faszinierender Filmemacher. Faszinierend genau und direkt in dem Inhalt, den er kommunizieren möchte, und faszinierend kreativ in der visuellen Umsetzung seiner Gedanken in bewegte Bilder. Mit Künstlern wie Glazer wird das Leben immer das Blut des Kinos bleiben.
Seine Musikvideos für RADIOHEAD, BLUR und MASSIVE ATTACK könnten auf den ersten Blick eigenständige, großartige Kunstwerke sein, doch ist es ihre Symbiose mit der Musik, die das Talent Jonathan Glazers ausmacht. Seien seine Inszenierungen noch so spektakulär, so ist für ihn der Inhalt doch für die Form maßgeblich. Das Thema ist dabei nie ein fiktives, sondern immer unser Leben. In seinen Tiefpunkten, Kontrasten und Fluchtversuchen. Und immer mal wieder ein Aufkeimen von Hoffnung. Schwerelos über dem Strudel schweben, während wir tiefer in die Ungewissheit des Dunkels treiben.
Mehrfach ausgezeichnet sind auch seine Werbespots für verschiedene große Marken. Letztendlich sind sie immer noch Werbung, doch für Momente glaubt man in ihnen Leben zu finden. Die Industrie ist ihm sicher dankbar für die hoffnungsvollen Rollen, die er den zu bewerbenden Produkten in seinen Spots gibt. Jeans, mit denen man durch Wände gehen und aus diesem Leben ausbrechen kann. Neubaugebiete, die in Farbfontänen eine Berechtigung finden. Bier, welches uns zu einem anderen, jedoch keinem neuen Leben führt. Wieder Flucht, Kontraste und ein bisschen Hoffnung. Glazer ist ein Beobachter und Kommunikator, und dass er heute so geschätzt wird, lässt einen doch schon wieder an die Schönheit des Lebens glauben.
UNDER THE SKIN, dessen Review in der aktuellen DEADLINE #47 nachlesen könnt, ist nach SEXY BEAST und BIRTH sein dritter Kinofilm. Technisch und dramaturgisch höchst unterschiedlich, weisen dabei vor allem UNDER THE SKIN und BIRTH atmosphärische und thematische Gemeinsamkeiten auf. Nicole Kidman ist in ihrer Beziehung zu der Reinkarnation ihres verstorbenen Mannes in Form eines Zehnjährigen genauso einsam wie Scarlett Johanssons Alien bei dem Versuch, ein Leben der Liebe zu führen, und auf ihrer Jagd nach Hoffnung.
Als ich mich im Hotel mit Jonathan Glazer treffe, habe ich David Bowies Soundtrack von LABYRINTH unter dem Arm, gerade auf dem Flohmarkt erworben. Als er mich fragt, ob es eine gute Kopie sei, sage ich, dass mir das egal ist. Jonathan Glazer nickt zustimmend und sagt: „Ja, die Kratzer gehören zum Leben dazu.“
Ich sprach mit ihm für euch über UNDER THE SKIN, was bedeutet, dass wir über das Leben sprachen. UNDER THE SKIN ist DIE Bestandsaufnahme der Welt, in die wir jeden Tag hineingehen. Aber vielleicht gibt es ja doch Hoffnung, dass wir nicht alleine sind. Ich weiß es (noch) nicht …

 

 

 

Deadline: Ich habe UNDER THE SKIN zum ersten Mal vor ein paar Tagen gesehen und mutmaßte bereits nach dem Ansehen des Trailers, dass er einer meiner Lieblingsfilme werden könnte. Genau so ist es dann auch gekommen. Er hat mich tief bewegt, und ich konnte mich eins zu eins in ihm wiederfinden.
Das Erste, was mir nach dem Film durch den Kopf ging, war: Gibt es eine Möglichkeit, nicht alleine zu sein?

 

Jonathan Glazer: (lacht bestätigend) Nein, ich denke, es gibt keine Möglichkeit. Du kannst mit dir selbst alleine sein, oder du kannst mit jemand anderem gemeinsam alleine sein, aber du wirst immer alleine bleiben. Das ist das uns auferlegte Gesetz, oder?

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Deadline: Aber ist es nicht das Ziel eines jeden Lebens, diese Einsamkeit zu überwinden?

 

Jonathan Glazer: Du kannst mit einer anderen Person zusammenleben, aber auch dann werdet ihr eben nur gemeinsam alleine sein. Man ist ganz alleine. Mit oder ohne jemand anderen. Du bist alleine. So sind wir gemacht. Das ist ein sehr interessantes Statement, denn das ist eine Schlüsselfrage im Film. Eine Frage, die in allen Momenten des Films präsent ist.

 

Deadline: Was hat dich am meisten berührt, als du zum ersten Mal mit der Vorlage von Michel Faber in Kontakt gekommen bist?

 

Jonathan Glazer: Ich mochte es, während der Geschichte nah bei ihrem Charakter, Scarletts späterer Figur, zu sein. Und dann gibt es einen Moment, nach circa 50 Seiten, in dem die Person, über die sie spricht, Amlis Vess, zu dem Planeten kommt, und man sieht ihn, wie er geschaffen ist, nicht in der verkleidenden Haut, in der sie sich befindet. Das ist ein sehr starker Moment im Buch. Außerdem gibt es noch zwei bis drei andere Schlüsselmomente, an die ich mich sehr gut erinnern kann. Ich hatte das Gefühl, dieses Buch erforschen zu wollen. Ich wollte nicht das Buch verfilmen. Ich wollte einen Film ausgehend von dem Buch machen. Also begann ich nachzudenken und zu verstehen, worum es in dem Buch geht und warum es so eine starke Wirkung auf mich gehabt hat.

 

Deadline: Wenn ich ein Buch lese oder einen Film schaue, muss er mich nicht unbedingt als Ganzes überzeugen, aber es gibt manchmal diese einzelnen Momente, die einem den Atem stocken lassen und derart faszinieren, dass diese paar Sekunden oder Zeilen das Werk zu einem großen Kunstwerk emporheben. Ging es dir ähnlich mit dem Buch?

 

Jonathan Glazer: Ja, dass Buch hatte für mich ganz bestimmte Momente, welche die Geschichte tragen und voranbringen. Diese habe ich versucht, auch für den Film zu benutzen. Aber alles andere im Film ist komplett verschieden. Es gibt nichts im Film, was durch das Buch dramatisiert wurde. Es gibt keine einzige Szene, die in Gänze vom Buch auf den Film übertragen wurde. Das Buch war ein Startpunkt, kein Endpunkt.

 

Deadline: Ich bin ein großer Anhänger der Filme von Stanley Kubrick, und du hast einmal gesagt, dass 2001 dich bei der Umsetzung von UNDER THE SKIN inspiriert hat.

 

Jonathan Glazer: 2001 hatte ich im Hinterkopf für die Konstruktion der Eröffnungsszene des Films, mit dem Auge. Es ist nicht nur 2001, aber die Ähnlichkeit der visuellen Sprache dieser Szene zu 2001 ist sehr deutlich. Gleiches gilt für die Ausrichtung der Formen zu Beginn, welche Planeten zu sein scheinen, die wiederum an die andockenden Raumschiffe in 2001 erinnern. Wir verstehen die visuelle Sprache von Science-Fiction-Filmen bereits so gut, dass wir derartige Elemente und Bewegungen sofort mit dem Genre verbinden. Diese Konstellation wird dann zu etwas anderem, es erfolgt eine Dekonstruktion, und wir sehen ein Auge, ein menschliches Auge, in dessen Zentrum sich jedoch ein außerirdisches Element befindet. Es ging darum, dieses vorangegangene Element (aus 2001) zu benutzen, um den Zuschauer in die Geschichte gleiten zu lassen. Es gibt also eine Gemeinsamkeit, die dann jedoch umgestoßen wird.
Andererseits versuche ich nicht, irgendjemanden an irgendetwas zu erinnern. Ich möchte 2001 beim Zuschauer nicht bewusst in Erinnerung rufen. Der Film muss außerhalb dieser Konventionen stattfinden und für sich selbst stehen. Im Guten wie im Schlechten.

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Deadline: Ist es deiner Meinung nach ein Science-Fiction-Film?

 

Jonathan Glazer: Für mich ist Science-Fiction der Körper. Der Körper ist das Raumschiff. Das ist die stärkste Science-Fiction im Film. Was ist der menschliche Körper und was die Haut? Es geht um das Paradoxon von Körper und Seele. Das eine steckt in dem anderen, und das Nachdenken darüber ist für mich Science-Fiction.

 

Deadline: Mir hat die Musik des Films von Mica Levi sehr imponiert. Wie bist du auf sie gekommen?

 

Jonathan Glazer: Sie spielt für den Film eine sehr große Rolle. Zu Beginn des Projekts wusste ich noch nicht, mit wem ich für die Musik zusammenarbeiten würde. Wenn ich filme, versuche ich nicht, an eine spezielle Musik zu denken. Die Szene soll sich nicht auf eine bestimmte Musik verlassen können. Erst an einem gewissen Punkt kommt die Idee der Musik zum Film. Der Musikproduzent Peter Raeburn hatte mir ein paar Komponisten vorgeschlagen. Ich dachte von Anfang an, dass ich einen Komponisten brauchen würde, der noch nie zuvor so eine Arbeit abgeliefert hatte und aus einer ganz anderen Welt kommen würde. Er oder sie sollte keine Ahnung von Filmschulen haben oder davon, wie man Musik zu einem Film hinzufügt. Neben einigen großen und bekannten Komponisten schlug er mir mit weiser Auswahl auch Mica vor. Ich hörte mir dann die Musik der verschiedenen Komponisten an und wusste dabei nicht, welches Stück von welcher Person war, aber als ich ihres gehört habe, wusste ich sofort, dass sie die richtige Person sein würde. Danach habe ich mir nichts anderes mehr angehört, meine Entscheidung war gefallen. Ich wollte sie unbedingt treffen. Wir begegneten uns, redeten, und von dem Tag an arbeiteten wir an dem Film. Sie war bestimmt neun bis zehn Monate an UNDER THE SKIN beteiligt. Es war ein sehr intensiver Prozess. Es wurde viel Musik geschrieben, viele Sachen wurden wieder verworfen. Ich habe versucht zu verstehen, wie die Musik in dem Film klingen könnte. Die Musik war für uns das Blut des Films. Wenn es überhaupt eine Exposition in dem Film gibt, dann ist es die Musik. Ich wollte keine elektronische Musik im Film, ich wollte, dass es wirklich „gespielte“ Musik ist, mit echten Instrumenten. Aber Mica hat es geschafft, eine Kombination verschiedener Elemente zusammenzubringen. Es sind echte Instrumente, die von echten Musikern gespielt werden, aber die Art, wie sie die Stücke zusammenfügt, ist einzigartig. Man weiß nicht, wo ein Instrument aufhört und wo das nächste beginnt. Oder ob man gerade ein Geräusch oder richtige Musik hört. Auch das wurde zu etwas Fremdartigem (alien = fremdartig), in der Art und Weise, wie sie mit der Musik umging. Die Musik war eine der Hauptzutaten für den Film, die Seele von Scarletts Charakter.

 

Deadline: Für deine Kinofilme arbeitest du immer mit neuen Leuten zusammen, vor allem in den wichtigen Bereichen Kamera, Schnitt und Musik. Ist es dir besonders wichtig, immer neue Erfahrungen mit verschiedenen Personen zu machen?

 

Jonathan Glazer: Ich habe bisher nur drei Filme gemacht, die sich auch sehr voneinander unterscheiden. Ich möchte jedes Mal eine neue Herausforderung, etwas tun, was ich vorher noch nicht gemacht und worüber ich auch noch nicht nachgedacht habe. In manchen Bereichen arbeite ich durchaus mit den gleichen Leuten zusammen, aber in den von dir genannten Schlüsselpositionen möchte ich immer wieder neue Wege gehen. Man wählt seine Crew genauso sorgfältig aus, wie man es bei seinen Schauspielern tut. Es gibt Menschen, die haben den richtigen Geist und die Motivation für genau ein ganz spezifisches Projekt und nicht unbedingt auch für ein anderes. Hätte ich mehr Filme gemacht, gäbe es vielleicht eine kontinuierlichere Linie in diesem Bereich. Vielleicht würde ich dann immer mit demselben Komponisten und demselben Cutter zusammenarbeiten, wer weiß … Man schaut immer, was jedes Projekt benötigt. Und wenn du Glück hast, findest du die idealen Mitstreiter.

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Deadline: In einem anderen Interview hast du gesagt, dass die ästhetische Seite und der technische Stil von UNDER THE SKIN nicht so wichtig seien. Wenn man deine Musikvideos und anderen Spielfilme, BIRTH und SEXY BEAST, ansieht, fällt auf, dass die Bildsprache eine gänzlich andere ist. Man könnte also einerseits sagen, dass UNDER THE SKIN visuell nicht so ästhetisch ist, aber gleichzeitig auch behaupten, dass er besonders ästhetisch ist, da du absichtlich die Bilder einfach gehalten hast.

 

Jonathan Glazer: UNDER THE SKIN ist ästhetisch. Urteile über die Ästhetik sind immer wenig vertrauenswürdig. Ich denke, dass die Ästhetik von der Emotion des Films kommt. In diesem Fall war es sehr wichtig, die Schauspielerin zu verwandeln, sie zu verstecken und sie nicht als solche von den Menschen erkennen zu lassen. Die Kameracrew musste unsichtbar sein, und sie durfte in der realen Welt nicht auffallen. Ich wollte nur natürliches Licht. Ich wollte alles so filmen, wie es ist. Mit Menschen, denen nicht klar ist, dass gerade gefilmt wird. Unser Stichwort war Schlichtheit. Alles sollte schlicht und ungeschminkt sein. Jedes Mal wurde geprüft, ob wir gerade genug Licht für die Szene hatten. Hätte ich den Film auf einem iPhone gedreht, hätte es mir auch nichts ausgemacht, diese Art der Ästhetik hat mich nicht interessiert. Mir war es wichtig, sie so in unserer Welt zu filmen, wie sie ist.
Aber wenn man dann anfängt, die versteckten Kameras zu positionieren, etwa für die Szenen, in denen sie den Transporter fährt, beginnt man sich vorzustellen, wie die Aufnahmen später aussehen könnten. Dann wächst natürlich die Ästhetik und beginnt sich zu entwickeln. Ich wollte, dass die Kamera nie aufgeregt war. Ich wollte dem Zuschauer das Gefühl geben, dass er etwas beobachtet und alles jetzt gerade in diesem Moment geschieht. Was gerade passierte, konnte nur in diesem Moment geschehen. Würde man etwas später kommen, wäre alles anders. Es ging also darum, etwas einzufangen und zu beobachten, was gerade geschieht. Es gab Szenen, in denen wir einfach Leben gefilmt haben, und Szenen, die wir vorbereiten und inszenieren mussten. Doch auch diese Szenen mussten zu unserer Idee der Beobachtung und den übrigen Einstellungen passen. Wir haben also ganz bestimmte Entscheidungen für die Kameraarbeit getroffen und darüber, was diese dann dem Zuschauer kommunizieren würde. Das war eine schwierige Aufgabe. Die Ästhetik hat uns nicht geführt, sondern der Film hat die Ästhetik geführt, so könnte man es beschreiben. Aber Ästhetik gibt es natürlich immer, egal, ob sie beabsichtigt ist oder nicht. Ich denke, Ästhetik sollte nicht führen, sie sollte folgen.

 

Deadline: Adam Pearson ist einer der Darsteller im Film. War es für ihn nicht besonders bewegend, die Rolle eines entstellten, einsamen Mannes zu spielen, da er ja selber aufgrund seiner Krankheit ein Gesicht hat, welches sicher viele Menschen abschreckt? Aus seiner Perspektive könnte UNDER THE SKIN ja auch ein Film über sein Leben sein. Über seine Probleme und Hoffnungen, darüber, was er hat und was ihm fehlt.

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Jonathan Glazer am Set

 

Jonathan Glazer: Ja, es war ein wundervoller Film für ihn. Er wollte unbedingt darin mitspielen. Als mein Co-Autor und ich auf die Idee für diese Figur gekommen sind und darauf, warum wir sie in dem Film haben wollen, habe ich darüber mit dem Casting Director gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass sie genauso echt wie der Rest des Films sein soll. Ich wollte keine Make-up-Effekte für sein Gesicht verwenden, das wäre schrecklich gewesen. Adam war die einzige Person, die ihre Hand gehoben hat und bereit war, diese Rolle zu spielen. Adam wollte in dem Film sein, um seine Krankheit und ihre Auswirkungen auf sein Äußeres zu normalisieren. Jemanden durch Make-up-Effekte derart zu entstellen ist für ihn genauso entwürdigend, wie einen weißen Schauspieler mit schwarzer Farbe anzumalen. Er wurde für die Rolle gecastet, weil er der richtige Mann für diesen Charakter ist. Adam ist jedoch privat ganz anders als seine Figur im Film. Er ist sozial sehr aktiv, lustig, warmherzig und ein empathischer Mensch. Seine Figur im Film dagegen geht nachts einkaufen und lebt abgeschieden. Er verstand, worum es im Film ging und was wir dafür brauchten. Seine Beteiligung war wundervoll, und ich denke, Scarletts Charakter sieht im Film seine wahre Schönheit. Ihr Aufeinandertreffen mit ihm ist eine wichtige Station auf ihrer Reise.

 

Deadline: Ist es für dich wichtig, dass dein Film von den Kritikern oder den Zuschauern geschätzt wird?

 

Jonathan Glazer: (zögert) Ich denke, dass, wenn etwas gut ist, es nicht zwangsläufig bedeutet, dass es auch positiv aufgenommen wird.

 

Deadline: Manchmal ist es vielleicht sogar gut, wenn ein Werk nicht positiv aufgenommen wird, denn dadurch kann es vielleicht in den Menschen mehr bewegen.

 

Jonathan Glazer: Nicht immer. Dinge können gut oder schlecht sein und in beiden Fällen positiv aufgenommen werden. Ich denke, Werk und Rezeption sind nicht unbedingt miteinander verbunden. Mit Sicherheit nicht gleich nach der Veröffentlichung. Es überrascht mich nicht, dass die Meinungen der Menschen über UNDER THE SKIN auseinandergehen. Es beunruhigt mich auch nicht. Das wäre der Fall, wenn er nicht kontrovers aufgenommen worden wäre. Man inszeniert keinen Film, um bestimmte Meinungen zu provozieren, sondern um eine Geschichte zu erzählen. Ich möchte nicht nur Angst machen, Schläge austeilen oder dem Zuschauer eine entspannte Zeit mit meinem Film bescheren. Ich habe ein gutes Gespür für die Auseinandersetzung des Publikums mit meinem Film. Ich glaube, das Publikum möchte, dass der Filmemacher bei seiner Arbeit konsequente Entscheidungen trifft. Egal, ob es ihnen gefällt oder nicht, man muss in seiner Arbeit am Film konsistent bleiben und nicht auf einmal denken, dass man sich den Leuten anpassen sollte. Ich wollte so ehrlich wie möglich sein.

 

Deadline: Möchtest du, dass der Film über seine Dauer von 100 Minuten hinaus eine Wirkung auf das Leben der Zuschauer hat?

 

Jonathan Glazer: Ja, es interessiert mich, ob die Menschen von einem Film wie diesem etwas mitnehmen. Es ist mir wichtig, wenn sie etwas Positives mitnehmen. Es rechtfertigt den Aufwand für das ganze Unternehmen. Mein Job ist es, zu kommunizieren. Ich möchte nicht obskur sein, ich versuche, über meine Filme eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen. Aber dieser Weg der Kommunikation muss konsistent mit der Geschichte des Films sein. Wenn das Publikum das versteht und sich darauf einlässt, könnte es etwas in ihm verändern. Ich weiß nicht, wie und was genau sich verändern könnte, aber wenn es einen positiven Einfluss hat, ist mir das sehr angenehm.

 

Deadline: Gab es Momente, in denen du über ein anderes Ende für den Film nachgedacht hast?

 

Jonathan Glazer: Ja, die gab es. Im Skript stand ursprünglich ein anderes Ende. Aber als wir den Film geschnitten haben, hat es für mich überhaupt nicht mehr funktioniert. Man versteht nur, wie man den Film enden lassen möchte, wenn man erst mal gesehen hat, wie er nicht aufhören soll. Wir hatten ein Ende geschrieben und filmten es so, wie wir es beabsichtigt hatten. Als ich es mir aber dann angesehen habe, fühlte es sich einfach falsch an. Es ging darum, bestimmte Ereignisse erneut aufzugreifen und zu kalibrieren, sie erneut am Ende auftauchen zu lassen und zu positionieren und andere wiederum zu verlieren. Ursprünglich endete der Film nicht mit ihrem Tod, sondern ging weiter. Aber ich war an nichts weiter außer ihrem Tod interessiert. Das ist der größte Unterschied.

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Deadline: Kannst du dich mit ihrem Charakter identifizieren?

 

Jonathan Glazer: Ja, natürlich. Ich kann mich sehr mit ihr identifizieren. Ich muss mich mit ihr identifizieren können, um überhaupt in der Lage zu sein, diesen Film machen zu können. Ich kann mich mit jedem Charakter in dem Film identifizieren. Ich bin nicht sie, aber ich kann Aspekte von ihr nachempfinden. Auch ich empfinde mich als außerhalb stehend in Bezug auf viele Dinge. Ich fühle mich auch oft fremd in dieser Welt, wie sicherlich viele von uns. Die Perspektive jedes Einzelnen auf die Welt ist einzigartig. In dieser Art und Weise identifiziere ich mich mit ihr. Meine Einstellung ist einzigartig, genauso wie deine oder ihre.

 

Deadline: Glaubst du, dass es Menschen gibt, die sich nicht fremd in dieser Welt fühlen?

 

Jonathan Glazer: (überlegt) Nun, ich habe noch keine getroffen. (lacht) Manche Menschen gehen vielleicht durchs Leben und sind sich ihrer Fremdheit nicht bewusst. Ich denke, das ist die Gegebenheit unseres Lebens, allein zu sein. Wie du am Anfang schon angesprochen hast, der Film geht auf diesen Umstand in unserem Leben ein.

 

Deadline: Ich habe das Gefühl, dass Scarlett Johanssons Figur nicht nur in Bezug auf die Menschen, sondern auch in Bezug auf ihre räumliche Umwelt alleine und fremd ist. Ich finde, die technische Seite des Films arbeitet das sehr schön heraus. Ich bin der Meinung, dass es hier eine Parallele zu einem anderen Film von dir gibt, BIRTH. Visuell unterscheiden sich diese beiden Filme sehr, aber auch Nicole Kidmans Figur scheint sich mit zunehmender Laufzeit des Films in einer ihr immer fremderen Welt zu befinden. Sie hält sich zwar im Kreis ihrer Familie auf, in einem Haus mit wundervollen Räumen, aber sie scheint in dieses Umfeld nicht mehr hineinzupassen. Würdest du zustimmen, dass es zwischen diesen Filmen Gemeinsamkeiten gibt?

 

Jonathan Glazer: Ja, da stimme ich zu, es gibt Gemeinsamkeiten. Jetzt, wo beide Filme fertiggestellt sind, sind diese Gemeinsamkeiten für mich klarer zu sehen. Für mich sind beide Filme sehr miteinander verbunden. Ich analysiere nicht, warum sie es sind, das interessiert mich nicht so sehr. Aber ich fühle die Verbindung. Ich denke, es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen dem Jungen in BIRTH und diesem Übernatürlichen, Unsichtbaren, dem Geist und dem Gedächtnis von UNDER THE SKIN. Das ist die Verbindung. Aber ich habe nicht so viel darüber nachgedacht, denn beide Filme sind für mich beendet. Ich weiß nicht, womit der nächste Film, den ich inszenieren werde, in Beziehung stehen wird. Viele Dinge, die ich im Kopf habe, wollte ich in UNDER THE SKIN einfließen und in ihm abschließen lassen. Für mich war es wie eine Reise mit verschiedenen Sachen, an denen ich interessiert war, die zu einem Ende kommt. Visuell und so, wie ich den Film als Form betrachte. Ich war sehr an der Art, wie sich meine Filme entwickeln, interessiert. Jetzt fühlt es sich so an, als wäre dies wirklich das Ende dieses Kapitels gewesen. Welches auch immer das sein mag. Ich hoffe, mein nächster Film wird ein ganz neues Thema behandeln. Aber wer weiß das schon. Ich nicht. Beide Filme sind von mir, also müssen sie verbunden sein.

 

Deadline: Warum hast du dich dafür entschieden, in UNDER THE SKIN in einer Einstellung die menschlichen Überreste so deutlich zu zeigen, das Blut, Fleisch, die menschliche Masse? Gab es Erwägungen, diese nicht zu zeigen?

 

Jonathan Glazer: Nein, ich wollte sie auf jeden Fall zeigen. Ich mag die Idee des Direkten. Die Trennung von Haut, Körper und seinem Inhalt, dem Fleisch, aus dem wir gemacht sind. Die Haut hat für uns eine so große Bedeutung, wir machen uns so viele Gedanken über unser Äußeres. Es ist das Erste, was wir an einem anderen sehen, und das Erste, worüber wir urteilen. Für die Aliens ist die Haut wie eine Einkaufstüte aus Plastik, gefüllt mit irgendwelchen Produkten. Sie wollen nicht die Haut, sondern das, was darin steckt. Die Trennung dieser beiden Elemente ist etwas Faszinierendes. Es sollte nicht schauerlich wirken. Es ging mir um den Vorgang der Trennung. Du hast das Fleisch unter der Haut, und von einem Moment auf den anderen sind sie voneinander getrennt. Wir sehen, wie die Haut in diese Leere fällt und in ihr treibt. Meiner Meinung nach müsste das für Menschen ein sehr starkes und tragisches Bild sein, was wir in dieser Einstellung erzeugt haben. Für mich fühlt es sich zumindest so an. Und dann die Direktheit, wie das Fleisch von der Kamera wegtreibt und verschwindet. Es beschreibt, wie die Aliens über uns denken. Sie wollen unser Fleisch, und im Gegensatz zu uns interessieren sie sich für nichts anderes. Sehr direkt.

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Deadline: Ich möchte nicht wissen, was du bei der Szene beabsichtigt hast, aber für mich gibt es da zwei Interpretationsmöglichkeiten. Adam Pearsons Figur stirbt nicht in der dunklen Substanz, sondern verlässt am nächsten Morgen das Haus: Hat sie ihn gehen lassen, oder wollten die Aliens sein erkranktes und unperfektes Fleisch nicht?

 

Jonathan Glazer: Ah, ich verstehe. Für mich lässt sie ihn gehen. Ihre Flucht ist mit seiner verbunden. Ihn gehen zu lassen ist mit ihrem Willen zum Ausbrechen verbunden. Sie zeigt eine Art Intuition, vielleicht sogar Gnade. Als sie sich in dem Spiegel betrachtet, bedeutet das für sie das Ende dieses Teils der Reise. Sie versteht, dass sie raus aus ihrem bisherigen Leben möchte. Es ist, als würde sie ihren Job hinschmeißen. Wie jemand, der beschließt, am Dienstag mit dem Arbeiten aufzuhören, aber es erst am Freitag tatsächlich schafft. Sie lässt ihn gehen und fängt damit ein neues Leben an. Das ist es, was ich beabsichtigt habe mit dieser Szene.

 

Deadline: UNDER THE SKIN wurde in Schottland gedreht. Wäre es möglich gewesen, ihn auch in einem anderen Land zu drehen? Warum ist Schottland besonders geeignet, um das Wesen des Films zu transportieren?

 

Jonathan Glazer: Schottland mit seinen Städten und seiner Wildnis war sehr wichtig für den Film. Das Buch spielt natürlich auch in Schottland, was ich immer geliebt habe. Ich habe Schottland als Ort der Handlung niemals infrage gestellt. Natürlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wo der Film auch noch spielen könnte, aber mir ist nichts dazu eingefallen. Ich habe es geliebt, in Schottland zu drehen. Im Buch gibt es keine Stelle, in der Scarletts Figur sich in einer Stadt befindet. Aber ich hatte das Gefühl, dass wir dies in den Film einbringen sollten. Ich wollte sie zwischen Menschen sehen, wie sie uns jagt, unerkannt. Und da nun mal die meisten Menschen in Städten leben, brauchten wir diesen Schauplatz. Dann entwickelt sich die Geschichte, und sie begibt sich in ihre Wildnis, und wir begeben uns in die Wildnis Schottlands. Es passt einfach zu der Geschichte, die wir erzählen wollten. Das Wetter, die verschiedenen Elemente, es ist alles da. Dort ist es wahrscheinlicher, Extreme zu beobachten.

 

Deadline: Wenn wir noch mal auf die Verbindung zwischen BIRTH und UNDER THE SKIN zurückkommen, könnte man sagen, dass Sex ein Problem des Menschen ist? In beiden Filmen haben die Protagonisten Probleme, den Geschlechtsverkehr überhaupt auszuführen. Möchtest du damit problematische Beziehungen der Menschen bezüglich dieses Themas ansprechen?

 

Jonathan Glazer: In BIRTH ist die Reinkarnation ihres Mannes ein zehnjähriger Junge und damit ein Symbol dafür, wie unmöglich es ihr trotz seiner Wiederkehr ist, ihn zu erreichen. Der Junge ist für sie die Grenze zu weiteren Gefilden. Das ist das zentrale Element. Aus diesem Grund musste er ein kleiner Junge sein und nicht ein anderer Mann. Man musste sehen, wie wahnsinnig sie diese Liebe macht. Sie redet mit dem Jungen über das Thema Sex, um ihn loszuwerden, aber aufgrund seiner Erinnerungen hat er gute Antworten für sie. Sie fragt ihn, ob er jemals eine Frau körperlich geliebt hat, wohlwissend, dass er erst zehn Jahre alt ist, und er sagt nur: „Du wirst die Erste sein.“ Er wird nicht weggehen, aber sie gelangt auch nicht zu ihrem Mann. Durch diese Situation wird ihre Krise dramatisiert. Das sind meine Gründe für diese Beziehung, was sich in meinem Kopf befindet.
In UNDER THE SKIN könnte man meinen, dass das, was sie tut, äquivalent zu sexuellem Appetit ist. Wie in einem B-Movie ist sie dazu designt, männliche Opfer in eine Falle zu locken. Sie ist das perfekte Lockmittel. Sex ist etwas, was sie niemals erreicht. Die Männer folgen ihr, werden aber von der schwarzen Substanz verschluckt, bevor es zu einem Kontakt kommen kann. Am Ende möchte sie diese physische Nähe spüren und erleben, wie sie sich anfühlt. Schon die Idee davon ist eine extreme Erfahrung für sie. Sie lässt sich fallen, wie eine Jungfrau, denke ich. Sie ist wie ein junges Mädchen, der erste Kuss und so weiter, die ersten Erfahrungen. Es ist Teil ihres Trugbildes. In dem Moment, in dem sie körperliche Liebe spüren will, wird sie von ihrer Realität erfasst. Sie ist körperlich nicht dazu ausgestattet, Sex zu haben. Es ist eine schockierende Manifestation ihres Trugbildes. Auch hier wird das Thema Sex benutzt für die Geschichte. Also in beiden Filmen. Aber für mich ist es kein sexuelles Problem, Sex ist einfach ein Teil des Dilemmas der Charaktere in BIRTH und UNDER THE SKIN. Es manifestiert die Dilemmas.

 

Deadline: Okay, vielen Dank für das ausführliche Interview.

 

Jonathan Glazer: Ich danke dir!

 

Interview in Berlin geführt von Leonhard Elias Lemke

 

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