Zur Festivaleröffnung am Freitag, dem 28. Juli, wie immer großes Tamtam mit rotem Teppich, aufwendig choreografierter Zeremonie und anschließendem Konzert – diesmal des Tschechischen Sinfonieorchesters, das Songs der Beatles anlässlich von Danny Boyles YESTERDAY interpretiert. Karlovy Vary, zu Deutsch Karlsbad, ist proppenvoll, im ganzen Ort gibt es Happenings, und in hippen Clubs und klassischen Jazzbars wird bis zum Morgengrauen gefeiert. Nicht jeder ist wegen der Filme hier, was auch gut so ist, denn die elf Spielstätten mit je sechs Filmen täglich (also bis Festivalende rund 1.000 Vorführungen und 130.000 vergebene Kinosessel!) sind immer voll und Tickets heiß begehrt. Aus der gigantischen Filmauswahl aus aktuellen Filmen, die in verschiedensten Wettbewerben konkurrieren, Retrospektiven und nachzuholenden Klassikern stelle ich mir ein kleines Programm zusammen, mit DEADLINE-Genre-Fokus und dem Ziel, auch gerade kleine Perlen zu entdecken, die man außerhalb eines Festivals wohl kaum zu Gesicht bekommen würde.
Samstag, 29. Juni
NOVA LITUANIA (Karolis Kaupinis)
Langfilmdebüt des litauischen Regisseurs, in 4:3 und Schwarz-Weiß. Die Zeit scheinen die späten 30er zu sein, es bleibt aber vage. Es steht ein großer Krieg bevor, in dem Litauens Existenz bedroht wird: Das Land ist zu unbedeutend und spärlich besiedelt und muss zwangsläufig in deutsche oder russische Hände fallen. Geografielehrer Feliksas hat die zündende Idee: Litauen auf einer exotischen Insel fernab des Kriegsgetöses neu erschaffen. NOVA LITUANIA stellt mit seinem Protagonisten die These auf, dass freier Raum fremde Besetzung anzieht – das widerfährt sowohl Feliksas’ Heimatland als auch seiner Ehe, in der aufgrund seiner Unfruchtbarkeit seine Stelle zunehmend vakant wird. Ein grotesker Film, stilistisch klar und einfach, in der Story aufwendig konstruiert, mit hervorragendem Text. Lässt ob seines absurden Witzes, der aber voll von Wahrheit ist, unvermittelt laut auflachen.
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MISS HANOI (Zdenek Viktora)
Zweiter Film des tschechischen Regisseurs. In der Tschechischen Republik, nahe der deutschen Grenze, existiert ein vietnamesischer Mikrokosmos. Anh, eine junge Polizistin mit vietnamesischen Wurzeln, hat vor Jahren ihre beste Freundin verloren. Der Fall wird wieder aufgerollt, als ihr damals noch minderjähriger Mörder, gerade aus dem Gefängnis entlassen, tot aufgefunden wird. Die Ermittlungen leitet der unkonventionelle Kommissar Kriz, der auf die ungleiche Anh angewiesen ist, um ins Milieu eintauchen zu können. MISS HANOI beginnt als Mysterythriller, als tschechischer DIE PURPURNEN FLÜSSE, verliert jedoch sofort an Reiz. Was auf dem Papier spannend klingt, ist vorhersehbar und klischeebeladen erzählt. Die Handkamera schafft keinen Realismus, sondern stellt die Unerfahrenheit des Filmemachers heraus. Der in seinem Heimatland geschätzte Schauspieler David Novotńy sorgt als Kriz für den einen oder anderen Lacher, bewegt sich jedoch unangenehm an der Grenze zum Rassisten. Gelungen sind die Einblicke in die vietnamesische Enklave.
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IN FABRIC (Peter Strickland)
Der neueste Streich des Giallo-Liebhabers Strickland (BERBERIAN SOUND STUDIO, THE DUKE OF BURGUNDY). Ein rotes Kleid führt ein Eigenleben und bringt Unheil über dessen wechselnde Besitzer. Stilistisch ein Genuss: körniges Bild, satte Farben, Split-Screens, Zeitlupen, meisterlicher Schnitt, ein detailliertes Sounddesign und Megasoundtrack von CAVERN OF ANTI-MATTER (ich will JETZT die LP). Man hat tatsächlich das Gefühl, einen 70er-Giallo zu sehen – das ist gerade bei verschiedenen Indie-Regisseuren Mode, aber Strickland versteht das Genre am besten. Cattet/Forzani sind noch stärker, aber auch experimenteller, und damit ihre Filme dekonstruierter. IN FABRIC ist blutige Erotik, Fetische tropfen aus jedem Filmbild. Vor allem die erste halbe Stunde löst Begeisterungsstürme aus – danach schwächelt er leider inhaltlich und wird – ungewollt – fragmentarisch. Der Film hat einen hervorragenden sprachlichen Witz durch aufwendigen Text, stilsicher von den Mimen vorgetragen. Damit unterwandert er aber seinen seriösen Grundtenor und kann die anfängliche Dichte nicht halten. Trotzdem will man, dass dieser Filmrausch kein Ende nimmt. Audiovisuell vereinnahmend. Im weiteren Verlauf des Festivals habe ich die erfreuliche Gelegenheit, Regisseur Peter Strickland zu interviewen – das Niedergeschriebene seines kreativen Geists findet ihr anbei.
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Bei der Pressekonferenz zum Film AFTER THE WEDDING mit Oscar-Preisträgerin Julianne Moore, ihrem Ehemann und Regisseur Bart Freundlich und Schauspieler Billy Crudup (WATCHMEN) nutze ich die Gelegenheit, mir von Moore meine LaserDisc von VERGESSENE WELT: JURASSIC PARK signieren zu lassen. Bestimmt ihr Lieblingsfilm! Im Festivalshop erstehe ich für gerade mal vier (!) Euro ein wunderschönes Buch, das zum 50-jährigen KVIFF-Jubiläum herausgegeben wurde. Illustriert mit zahlreichen Fotos ehemaliger Gäste wie Claudia Cardinale, Henry Fonda, Gregory Peck, Michael Douglas, Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Roman Polanski u. v. a., wird die turbulente Geschichte des größten osteuropäischen Festivals – zwischen West und Ost – erzählt – und auf einer Aufnahme mit Fanny Ardant und Franco Nero entdecke ich mich schemenhaft im Hintergrund. Quasi Geschichte.

Sonntag, 30. Juni
OLD-TIMERS (Martin Dusek und Ondrej Provaznik)
Vlasta fliegt aus den USA in sein Heimatland Tschechien, um seinen Freund Tonda zu besuchen – beide sind schon jenseits des Rentnerdaseins, und Vlasta sitzt im Rollstuhl. Sie treffen sich jedoch nicht, um in den alten Zeiten zu schwelgen – ganz im Gegenteil: Sie wollen sich aufmachen und den brutalen Kommunisten Mraz, der sie in den 50ern ins Gefängnis werfen ließ, aufspüren und töten. OLD-TIMERS ist ein gemächlich und mit Bedacht erzähltes Roadmovie. Damit hält es sich an seine zwei gebrechlichen Hauptfiguren und lässt den Zuschauer ihre Anstrengungen und Langsamkeit nacherleben. Unweigerlich wird der Film auch zur Komödie, wenn man die körperlichen Unzulänglichkeiten der beiden beobachtet oder etwa die Art, wie die wenig gesprächigen Käuze miteinander kommunizieren. Der Kern ist jedoch ernst und weniger politisch als persönlich. Eine eindringliche Studie über den Umgang mit der Vergangenheit und psychisch nicht abgeschlossenen Ereignissen sowie dem Dualismus von Starrsinn und Beharrlichkeit.
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IL CAMPIONE (Leonardo D‘Agostini)
WHEN SATURDAY COMES mit Sean Bean und Danny JUDGE DREDD Cannons GOAL gehören zu den wenigen guten Fußballfilmen. Selten sind Filmemacher auch große Fußballanhänger, und das merkt ein eingefleischter Fan sofort. Der Materie immanente Details werden ungenau dargestellt, die Szene nur oberflächlich betrachtet, und es krankt vor allem an den Spielszenen. Regisseur Leonardo D’Agostini geht mit seinem IL CAMPIONE den richtigen Weg, indem er sich auf einen Aspekt fokussiert: das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Das aufstrebende Supertalent vom AS Rom, Christian Ferro, ist auf dem Platz der King, lässt aber Disziplin vermissen. Der Clubpräsident bindet zukünftige Einsätze an ein erfolgreiches Abitur. Dazu wird ihm Lehrer Valerio zur Seite gestellt, der vom Calcio gar nichts weiß und keinen Schimmer von seinem weltbekannten Schüler hat. Als Modell für Christian Ferro fungierte Mario Balotelli: Bling-Bling, schnelle Autos, PlayStation, leichte Mädchen und außer Fußball sonst nichts. Doch Valerio und Christian finden zueinander, Lehrer und Schüler erreichen eine gemeinsame Ebene: Während Christian früh seine Mutter verloren hat, lebt Valerio von seiner Frau getrennt, nachdem sie ihr gemeinsames Kind verloren haben. Der Austausch über Einsamkeit und Verlustängste lässt beide zueinander- und zu sich selbst finden. Im Stile von LA GRANDE BELLEZZA wird der Prunk von Christians Leben inszeniert, führt beim Zuschauer zu neidischem Staunen und gleichzeitig Gelächter ob der Absurdität des Alltags eines Jungmillionärs. Doch der Kern sind die ruhigen Momente, nicht plakativ gespielt von den Schauspielern Andrea Carpenzano und Stefano Accorsi. Und so wird IL CAMPIONE von einem unterhaltsamen Fußballfilm überzeugend zu einer Geschichte über – zugegebenermaßen – Männerfreundschaften und die Wichtigkeit des Festhaltens und des Glaubens an eigene Ziele. Egal, was um einen herum passiert.
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KILLING (Shin‘ya Tsukamoto)
Der Japaner Shin‘ya Tsukamoto betritt gern gleichermaßen als Regisseur und Schauspieler die Filmbühne – so auch in seinem bekanntesten Werk TETSUO, einem Cyberpunkfilm über einen Mann, der sich in ein Metallmonster verwandelt. In seinem neusten Film KILLING spielt er einen alternden Samurai, der auf der Suche nach Mitstreitern ist, um für seinen Shōgun zu kämpfen. Er findet einen jungen Katana-Schwinger, der jedoch just krank wird und zunächst nicht mit ihm reisen kann. So wartet man gemeinsam auf die Genesung, denn dieser wünscht sich nichts mehr, als endlich ein richtiger Samurai zu sein und für das Gute (?) töten zu können. Als seine Siedlung von Landstreichern bedroht wird, kommt ihnen der Samurai zu Hilfe und tötet für sie die Eindringlinge – nur um damit das Blutbad zu beginnen und weitere Bedrohung anzuziehen. Der junge Krieger wird so erstmals tatsächlich mit den Schrecken des Kämpfens konfrontiert und will geschwind seinem Wunsch abschwören, was vom Samurai unter Androhung der Todesstrafe abgelehnt wird. KILLING ist mit einfachen Mitteln, intuitiver Kamera und nur grob klassischem Samurai-Setting inszeniert. Der Text der Figuren ist überraschend nah an unserer Zeit, was im Kontrast zur Handlung zu (gewollten?) Lachern führt. Außerdem sehen wir eine für das Genre ungewohnte Erotik und auch männliche Selbstbefriedigung. Man ist sich nicht immer sicher, ob die Einfachheit der Inszenierung Unzulänglichkeit ist, aus schmalem Budget folgt oder bewusste Fokussierung auf einen einzigen, wichtigen Aspekt ist. Da der Regisseur Tsukamoto heißt, tendiere ich zu Letzterem, und in jedem Fall ist es ihm eindrucksvoll gelungen, den Terror des Tötens und die Entwicklung zur Abkehr von jenem darzustellen. Eine im Kleinen angelegte Studie über die Unsinnigkeit von Gewalt als Lösungsmittel. Sollte man jedem jungen angehenden Soldaten mal zeigen.
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Montag, 1. Juli
THE MIRACLE OF THE SARGASSO SEA (Syllas Tzoumerkas)
Regisseur Tzoumerkas schwimmt auf der Welle des neuen griechischen Kino-Surrealismus, deren bester Surfer Yorgos Lanthimos ist, driftet aber in trübere Gewässer, die noch schwerer zu durchschauen sind. In THE MIRACLE OF THE SARGASSO SEA verschlägt es die strikte und rigorose griechische Hautkommissarin Elisabeth, die rabiat gegen junge Staatsfeinde vorgeht, auf eine Stelle in einem Kaff in einer Seenlandschaft. Einerseits faszinierende, andererseits unwirtliche und zivilisationsfeindliche Natur. Dies wirkt auf die Bewohner, die alle in ein Netz aus Intrigen, Drogen, Erotik und vor allem Feindseligkeit verstrickt sind. Elisabeth sollte Recht und Ordnung in diese undurchschaubare Gesellschaft bringen, trägt jedoch selbst genug Widersprüche in sich, um sich stattdessen in das Verquere einzugliedern. Lanthimos, Noé, Tzoumerkas? Zunächst glauben wir, einem recht konventionellen Drama zu folgen, haben dann Zweifel an der Qualität des Films, bis wir verstehen, dass die Dekonstruktion Programm ist und etwas Neues, Eigenes schafft, das uns mehr bereichern kann als das konventionelle Kino. Tzoumerkas verzichtet noch mehr als seine zuvor genannten prominenteren Regiekollegen auf Verständlichkeit. Menschliche Beziehungen bleiben unergründbar, sein Film mahnt zum Ablassen vom Erzählen prosaischer Geschichten. Der Wunsch nach Befriedigung und eine Erwartungshaltung sind hier fehl am Platz. Und doch gibt es Genuss, wenn man sich vom Film treiben lässt, nicht am Text festhält. Hauptdarstellerin Angeliki Papoulia spielte mehrfach auch für Lanthimos, und unser Blick haftet an ihr. Wir hassen sie. Wir lieben sie. Sie ist anziehend und abstoßend, Gefühlsausbrüche und Gleichgültigkeit bleiben für uns gleichermaßen unverständlich, und doch empfinden wir eine Art Mitgefühl für ihr wirres Wesen. Dennoch ist sie kein Spielball. Plötzlich kann auch sie zur Macherin werden. Wie auch seine Protagonistin ist der Film voll von neugierig machenden Widersprüchen. Wunderschöne Naturaufnahmen wechseln sich mit rohem Sex und Gewalt ab. Eine detailliert ausgetüftelte Spirale des Unsinns. Eine Studie der menschlichen Reaktion.
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