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FANTASY FILMFEST – EIN RÜCKBLICK

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Auch dieses Jahr war das Herbstprogramm des Fantasy Filmfests wieder ungewöhnlich und spannend, aufregend, bewusstseinserweiternd und skurril. Eine unendliche Menge an Adjektiven würde einem für dieses wunderbare deutsche Genrefestival einfallen, das nunmehr seit 31 Jahren durch die Städte Berlin, Frankfurt, Köln, Nürnberg, Stuttgart, Hamburg und München tourt. Fantasy steht hier ja nicht im klassischen Sinne für Drachen, Feen und verwunschene Orte, sondern für Filme, die vor allem eines sind: fantastisch.

Speziell bieten wir hier euch etwas verspätet eine Nachlese von Filmen, die noch keinen deutschen Verleih gefunden haben oder nicht in den nächsten Monaten ins Kino oder als DVD/BD kommen werden.

 

Dieses Jahr speziell war der große Anteil an Coming-of-Age-Filmen, in denen also Kinder oder Jugendliche die Hauptdarsteller sind und ihr Heranwachsen oder Erwachsenwerden mehr oder weniger im Zentrum steht. Dabei haben sie natürlich nicht nur mit sprießenden Schamhaaren oder der ersten Liebe zu kämpfen, sondern werden, ganz im Gegenteil, mit Gewalt, sehr realen Ängsten und auch der Allgegenwart des Todes konfrontiert. So etwa im großartigen Eröffnungsfilm ES des argentinischen Regisseurs Andy Muschietti (MAMA), in dem unter anderem Finn Wolfhard, der junge Star aus der überraschenden Erfolgsserie STRANGER THINGS, mitspielt. Außerdem noch SUPER DARK TIMES, das diesjährige Centerpiece SICILIAN GHOST STORY, RAW, der für den festivaleigenen Fresh Blood Award nominierte TRAGEDY GIRLS und noch viele andere.

 

Eine weitere Besonderheit dieses Jahr war das Takashi-Miike-Special, der mit der Mangaverfilmung BLADE OF THE IMMORTAL seinen 100. Film feiern konnte und dafür mit einem Vormittags-Double-Feature geehrt wurde.

 

Den zuvor erwähnten Fresh Blood Award hat am Ende übrigens der isländische Beitrag EG MAN PIG des Regisseurs Óskar Thór Axelsson abgestaubt, eine mysteriöse Geistergeschichte der Sonderklasse. Ebenfalls ungewöhnlich war die Beitragsdichte aus dem Heimatland des Festivals, mit dem humorigen SCHNEEFLÖCKCHEN, FIGAROS WÖLFE – einem schwarz-weißen Albtraumtrip in die Abgründe der menschlichen Seele – und der Anti-Aging-Methode REPLACE war Deutschland gleich dreimal vertreten.

 

Da bleibt einem zum Schluss eigentlich nicht mehr viel übrig, als sich auf die White Nights vorzubereiten und sich zu freuen! (Raffaela Schöbitz)

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SCHNEEFLÖCKCHEN

Regie: Adolfo J. Kolmerer / Deutschland 2017 / 105 Min.

Darsteller: Reza Brojerdi, Erkan Acar, Xenia Assenza, David Masterson, Alexander Schubert, Gedeon Burkhard, Sven Martinek, Mathis Landwehr u. a.

Produktion: Erkan Acar, Adrian Topol, Reza Brojerdi

Verleih: Capelight Pictures

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Die Freizeitganoven Tan und Javid sind auf Rache aus und schießen und kloppen sich durch Berlin. Dabei philosophieren sie über den perfekten Döner und finden ein Drehbuch, das ihre eigenen Dialoge Wort für Wort sowie ihr Handeln beinhaltet, bis zu ihrem Tod. Gleichzeitig ist die junge Eliana gemeinsam mit ihrem Bodyguard auf der Suche nach einem Auftragskiller, um Rache für den Mord an ihren Eltern zu nehmen. Nebenbei mischen auch noch der Stromstöße schießende Superheld Hyper Electro Man sowie eine Menge weiterer illustrer Gestalten im Geschehen mit. Und das nennt sich dann SCHNEEFLÖCKCHEN. Weil niemand dieses Projekt fördern wollte und es sämtlichen Produktionsfirmen zu heiß war, drehten die Macher ihren Wunschfilm über vier Jahre lang an Wochenenden selbst. Niemand quatschte ins Drehbuch rein, und Konventionen gehen den Machern offenbar eh getrost am Arsch vorbei. Das Ensemble ist sich einig, „einen Film für uns“ gedreht zu haben. Und damit haben sie gleichzeitig das Flehen anderer deutscher Genrefans erhört, die die Schnauze von Schweigerhöfer und Co. schon lange voll haben. Ja, da ist das Ding! Endlich ein Genrefilm aus deutschen Landen, für den man sich nicht schämen muss – den man sogar abfeiern darf, kann und sollte. Kein verkappter Schwarz-Weiß-Film-Studenten-Schmu, keine zotige Komödie und kein billiger No-Budget-Heuler. SCHNEEFLÖCKCHEN ist der real fuckig Deal. Er bedient sich zwar ordentlich und eindeutig bei Quentin Tarantino, Kevin Smith oder Guy Ritchie, ist aber dennoch ein eigenständiger – und vor allem unterhaltsamer – Hybrid aus Science-Fiction, Action-/Gangsterthriller und (Buddy-)Komödie. Und zudem ein Metafilm über den Film bzw. das Filmgeschäft. Abgesehen von bekannten Gesichtern wie Mathis Landwehr (LASKO – Die Faust Gottes), Sven Martinek (DER CLOWN) oder Gedeon Burkhard (ALARM FÜR COBRA 11) besteht das Cast laut eigener Aussage zu 95 % aus Bekannten und Freunden von Regisseur Adolfo und den Produzenten. All das zahlt sich aus, denn alle Beteiligten liefern ab, und man merkt ihnen das Herzblut in jeder Sekunde an. Was ein Spaß, was eine Unterhaltung. Danke. (Manuel Magno)

 

Der beste deutsche Genrefilm seit … jemals

 

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MEMOIRS OF A MURDERER

(OT: 22-nenme no kokuhaku: Watashi ga satsujinhan desu)

Regie: Yû Irie / Japan 2017 / 118 Min.

Darsteller: Tatsuya Fujiwara, Toyotaka Hanazawa, Mitsuru Hirata, Anna Ishibashi, Hideaki Itô

Produktion: Billy Acumen, Jeong-hun You

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Was, wenn bestialische Morde plötzlich verjährt wären? Sich der nie gefasste Serienkiller auf einmal in die Öffentlichkeit wagt und sich damit brüstet, ja seine Taten sogar medial ausschlachtet? Diesem polarisierenden, äußerst erschütternden Gedankenspiel ging 2012 der südkoreanische Thriller CONFESSION OF MURDER nach. CONFESSION war aber alles andere als ein kopflastiges Justizkammerspiel, sondern vielmehr ein vielschichtiges Schreckensszenario. Das so atemberaubend, dass nun nach dem indischen Remake ANGELS eine weitere, nicht minder fesselnde Neuauflage realisiert wurde. Aber nicht etwa durch die untertitellesefaulen Amerikaner, sondern man inszenierte etwas näher in Japan neu. Das Nippon-Remake befasst sich mit grausamen Morden, die 1995 Tokio erschüttern. Der Täter, von der Presse gewohnt boulevardesk „Tokyo Strangler“ getauft, wird nie gefasst. Einer kam ihm doch bedrohlich nahe: der junge Cop Wataru. So nahe, dass er heute eine tiefe Narbe im Gesicht trägt. Ganz zu schweigen von den inneren Schäden, denn der Fall wurde zu seiner regelrechten Obsession – bis er geschlossen wurde. Nun lässt aber ein neues Gesetz die Taten verjähren und damit den Killer auftreten. Der Tokyo Strangler gibt sich nicht nur zu erkennen, sondern bringt sogar ein Buch mit allen blutigen Einzelheiten heraus. Wataru, mittlerweile Kommissar, ist geschockt und beschließt, seinen Todfeind zu konfrontieren. Was folgt, ist ein emotionales, dramaturgisch wuchtiges Cop-Drama, das mit unzähligen Haken und Wendungen aufwartet und bis zur finalen Minute fesselt. Der Tokyo Strangler wird zum umjubelten Star, sein Buch „I am the murderer“ zum Bestseller, und Fans liegen ihm zu Füßen. Aber Gerechtigkeit soll es geben. Also lädt ein findiger TV-Moderator zur Liveshow, und auch Wataru erhält eine Einladung … Mit einem deutschen Versatzstück dürfen wir wohl leider nicht rechnen, schließlich würde sich ja jeder Rundfunkbeitrag-Bezahler hierzulande über die Tatsache aufregen, dass Mord rechtlich überhaupt nicht verjährt. (Marc Vogel)

 

Spannende Neuauflage

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MY FRIEND DAHMER

Regie: Marc Meyers / USA 2017 / 107 Min.

Darsteller: Ross Lynch, Anne Heche, Dallas Roberts, Vincent Kartheiser, Alex Wolff, Miles Robbins, Harrison Holzer, Cameron McKendry, Tommy Nelson, Katie Stottlemire, Sydney Jane Meyer

Produktion: Giorigio Angelini, William K. Baker, Milan Chakraborty, Michael Merlob, Jody Girgenti, Adam Goldworm

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Im Jahr 1978 ist Jeffrey Dahmer ein unbekannter Teenager, der Kleintiere seziert und in Chemikalien einlegt und auf eine ganz normale Schule in Ohio geht. Eher der schlaksige und introvertierte Typ, geistert er gedankenverloren durch die Gänge. Die Mitschüler nehmen ihn gar nicht richtig wahr, bis er spastische Anfälle im Unterricht vortäuscht. So gewinnt er die Aufmerksamkeit von ein paar Jungs um John „Derf“ Backderf, die ihn von nun an als eine Art Fanclub begleiten. Nach wie vor fühlt sich Jeffrey von allen unverstanden, nicht zugehörig. Seine Eltern stehen kurz vor der Trennung, die Mutter hat ein Suchtproblem, der Vater ist überfordert. Jeffrey flüchtet sich in den Alkohol und immer düsterere Gewaltfantasien, die er bald nicht mehr kontrollieren kann.

MY FRIEND DAHMER basiert auf der Graphic Novel aus der Feder von ebenjenem Derf und erzählt detailgetreu über die Jugendjahre eines der bekanntesten amerikanischen Serienkiller. Vielleicht versucht der Film sogar zu erklären, wie Jeffrey Dahmer zu diesem Serienkiller wurde. Die Taten selbst spielen keine Rolle, der Abspann beginnt, als Dahmer seinem ersten Opfer begegnet. Regisseur Marc Meyers gelingt es, diese bedrückende Geschichte sehr einfühlsam und hautnah zu erzählen. Die 70er-Jahre springen dem Zuschauer mit jedem Kleidungsstück und Einrichtungsgegenstand entgegen und lassen uns immer tiefer in den Film eintauchen. Die Verzweiflung des andersartigen Teenagers ist in jeder Szene greifbar und wird von Ross Lynch (Disney Channel!) mehr als eindrucksvoll porträtiert. Auch die Besetzung der Nebenrollen ist ein wahrer Coup, Anne Heche und Dallas Roberts als Dahmers Eltern brillieren in ihren Rollen.

Meyers stellt uns mit seinem Film die Frage, ob man mit einem Menschen wie Jeffrey Dahmer Mitleid empfinden darf. Und das ist wohl eine Frage, die nur jeder für sich selbst beantworten kann. So oder so ist MY FRIEND DAHMER ein fantastisch inszenierter, einfühlsamer und unbequemer Film, der uns noch lange im Gedächtnis bleiben wird. (Laura Freialdenhoven)

 

Monsters are created, not born

 

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BITCH

Regie: Marianna Palka / USA 2017 / 93 Min.

Darsteller: Jaime King, Marianna Palka, Jason Ritter, Sol Rodriguez, Brighton Sharbino

Produktion: Michael Moran, Daniel Noah, Josh C. Waller, Elijah Wood

 

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Im vierten Spielfilm der Regisseurin und Drehbuchautorin Marianna Palka befreit sich eine von repressiven und patriarchalen Familienstrukturen buchstäblich an die Leine gelegte Hausfrau und Mutter auf äußerst unkonventionelle Weise von ihren Fesseln.

 

Bereits mit der ersten Einstellung enthüllt Palka die feministische Botschaft ihres Films: Jill, eine erschöpfte Vorstadt-Mutter von vier Kindern (von Palka selbst gespielt), begeht erfolglos Selbstmord, indem sie sich mit dem Gürtel ihres Ehemannes am Kristalllüster zu erhängen versucht. Wie eine devote und mit eingezogenem Schwanz stets zu ihrem Herrchen zurücktrottende Hündin unternimmt Jill noch einen letzten kläglichen Versuch, ihren chauvinistischen Ehemann Bill (großartig: Jason Ritter!) über den bereits an ihrem Verstand zerrenden Nervenzusammenbruch aufzuklären. Doch vergnügt sich dieser – leider ein etwas bemühtes Klischeebild – lieber bei oralen Spielchen mit seiner Sekretärin. Am nächsten Morgen ist die Frau, die bisher die gesamte familiäre Ordnung mühsam aufrechterhalten hat, plötzlich verschwunden, und aus dem Keller hört man es bellen.

 

Sehr bald liegen alle Tatsachen auf dem Tisch, und den Figuren wie auch der installierten Genderpolitik bleibt entsprechend wenig Entwicklungsspielraum. Auch die Bildsymbolik scheint an einigen Stellen etwas überladen, doch bildet das derbe Soundgemisch aus Hundegebell, Knurren und Krallenwetzen einen ebenso hervorragenden Konterpart wie die beklemmende Enge, mit der Kameramann Armando Salas die zur Hündin mutierte Jill zwischen den mit eigenen Fäkalien beschmierten Kellerwänden in klaustrophobische Close-ups setzt. Obwohl Palka keine Haare sprießen oder ihre Zähne sich in lange Fänge verwandeln, ist die animalische Transformation durch ebendiese einfachen wie grandios eingesetzten filmischen Mittel greifbar und ungewöhnlich realistisch.

 

Zwar wird BITCH seinem forschen Titel in Bedingungslosigkeit und Härte nicht vollkommen gerecht, ist aber dreckig und abgedreht genug, um nicht nur das Premierenpublikum des Sundance Film Festivals zu begeistern. (Raffaela Schöbitz)

 

Bitch please!

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THIS IS YOUR DEATH

Regie: Giancarlo Esposito / USA 2017 / 104 Min.

Darsteller: James Franco, Famke Janssen, Josh Duhamel, Sarah Wayne Callies, Giancarlo Esposito, Caitlin FitzGerald

Produktion: Christopher D’Elia, Giancarlo Esposito, Lawreen E. Kayl, Michael Klein

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Der Regisseur und Schauspieler Giancarlo Esposito zeichnet mit seinem reflexiven Film THIS IS YOUR DEATH eine Sozialkritik, die widersprüchlicher nicht sein könnte.

 

Während dystopische Serien wie BLACK MIRROR äußerst intelligente Szenarien einer nahen Zukunft zeigen, in der die moralischen und ethischen Gesetze unserer Gesellschaft immer wieder auf dem Prüfstand stehen, entwirft Esposito mit THIS IS YOUR DEATH eine durch und durch amerikanisierte Version eines intelligenten Kommentars.

Er prangert die Morallosigkeit und Korruptheit seines Protagonisten, des TV-Show-Stars Adam Rogers (Josh Duhamel), nicht nur an, er tappt im Prinzip in dieselbe Falle, indem er all das zeigt und inszeniert, was er eigentlich für verabscheuungswürdig zu halten scheint.

 

Nach dem dramatischen Ausgang eines Bachelor-Finales äußert sich Rogers in der „Morning Show USA“ (in der James Franco überflüssigerweise den Nachrichtenmoderator mimt) äußerst abfällig über das gesamte (Fake-)Reality-Show-Geschäft. So weit, so gut! Ihm bleibt eine letzte Chance auf Rehabilitation, die er zunächst zögerlich, sehr bald aber umso leidenschaftlicher ergreift. Mit This Is Your Death entwirft Rogers ein Live-TV-Konzept, in dem Menschen für einen guten Zweck vor der Kamera Selbstmord begehen.

 

Tatsächlich hatte Esposito mit THIS IS YOUR DEATH alle Möglichkeiten, eine spannende und anspruchsvolle Gesellschaftskritik abzuliefern, doch jeder halbwegs reflektierte Zuschauer wird sich spätestens nach der sehr okayen ersten Hälfte des Films über die vorgeführte Doppelmoral ärgern, die ab da die Oberhand gewinnt.

 

Zwar spielen (bis auf Esposito, der sich selbst als weinerlichen Familienvater inszeniert) alle Schauspieler ihre Rollen durchaus überzeugend, wie etwa Famke Janssen als biestige, skrupellose TV-Sender-Chefin, und doch wird man das Gefühl nicht los, dass man lediglich die weichgespülte Version eines noch viel dreckigeren und kompromissloseren Business vor sich hat, als das durchaus originelle Grundkonzept des Films vermuten lässt.

(Raffaela Schöbitz)

 

Tod auf der Warteliste